Ein Gespräch mit Anna Wendt, Filmproduzentin

19th Februar 2024

Aufgewachsen im Berlin der 80er Jahre, die Arbeit in einer Männerdomäne und ein ambivalenter Feminismus

Als ich Anna das erste Mal trifft, verbindet uns sofort die gemeinsame Sorge um die pflegebedürftige Mutter. Zu diesem Zeitpunkt waren wir beide intensiv damit beschäftigt, die Pflege zu organisieren, konfrontiert mit Demenz in all seinen Facetten, Bürokratie mit Krankenkassen und Behörden, absurden Alltagssituationen und einer emotionalen Erschöpfung. Wir reden über Verantwortung und Trauer, Schuldgefühle und den Kampf nicht nur für die Mutter, auch um die eigene Existenz.

Anna ist Berlinerin.

„Ich bin in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen, direkt am Stuttgarter Platz. Ein geschichtsträchtiger Ort: nach dem Krieg florierte dort der Schwarzhandel, Herta Heuwer hat ums Eck die erste Currywurst verkauft, die K1* zog ein und machte ihr berühmtes Nacktfoto, später gab es ein Baghwan Café. Und, es war auch das Rotlichtmilieu mit Topless Bars und Puffs. Sexualität wurde sehr freizügig gelebt, antiautoritäre Erziehung war normal, da wuchs ich nicht gerade geschützt auf.“

Geboren 1975 im ehemaligen West-Berlin, beide Eltern sind Teil der antibürgerlichen Bewegung, aus den Engen der eigenen Familien nach Berlin geflohen, der Vater der Bundeswehr entwischt, bauen sie sich hier ihr neues, freies Leben auf. Die Eltern trennen sich, als Anna gerade 6 Jahre alt ist. Sie lebt von da an bei der Mutter, die emanzipiert und selbstbewusst lieber alleine lebt, als sich einem Mann anpassen.

Als Heranwachsende erfährt Anna früh den “Lolita Effekt”. Der Körper verändert sich, doch Anna definiert sich als Tom-Boy und möchte die Freiheit und Ungezwungenheit der gleichaltrigen Jungs leben, die weniger Aufmerksamkeit bekommen. Annas Aussehen wird vermeintlich wichtig. Sie erfährt viel Aufmerksamkeit von Männern, der sie sich nicht gewachsen fühlt.
Für mich war Sexualität von Anfang an überfordernd. Noch nicht wissen was ‘richtig’ Küssen ist oder noch nicht mit einem Jungen schlafen zu wollen, war damals ein Grund als komisch zu gelten. Und schon früh wurde meine Verspieltheit, mein Lächeln oder interessiertes Zuhören, mit flirten, Zuneigung und Aufforderung verwechselt. Als ich dann damit aufgehört habe, galt ich als eingebildet und arrogant. Das war anstrengend.“ Anna schildert sich selbst als chamäleonartig, die sich jeder Situation anpassen konnte und trotzdem wollte sie unbedingt anders sein, bloß nicht „normal“.
Ich habe komisch und verkrampft versucht passend, dabei aber unbedingt individuell zu sein. Als Trennungskind, ‚Berliner Schlüsselkind‘, war ich dazu viel allein und musste früh erwachsen werden.

Erst die MeToo-Bewegung führt ihr vor Augen, dass das, was auch sie immer wieder erleben musste, Grenzüberschreitungen waren. Es ist eine lange Entwicklung, bis sie auch ihre eigenen Wünsche definieren kann. Dabei hilft ihr vor allem die Arbeit mit der Körpertherapeutin Susanne Kukies, Natur, viel Bewegung und der kreative Ausgleich: Fotografieren, Schreiben, Malen und Goldschmieden. Sie sieht sich früher als Vaterkind, vermisst ihn und orientiert sich an ihm.
Damals war er in meinen Augen der Erfolgreiche, der Versorger, der, der es geschafft hat.“ Die oft zu laute, zu große Zustimmung und Unterstützung der Mutter sieht sie immer kritisch und sieht sich nach einer Bestätigung des Vaters, der meist eher unbeeindruckt ist.

Die Mutter machte mich zum Genie, der Vater bemerkte mich kaum.“ Es scheint schwer, eine Balance zu finden. Anna will alles perfekt machen, um dann der Vorstellung der Mutter zu entsprechen und andererseits vom Vater gesehen zu werden.
Meine Mutter wollte mich stark machen und ich hab mich mehr nach Trost gesehnt. Für mich war als Jugendliche alles so extrem schwarz oder weiß, keine Grautöne. Ich wurde mit 12 Mal in einer Radiosendung gefragt, ob ich schon auf Jungs stehe und was ich später mal werden will. Meine Antwort: Ich muss auf jeden Fall Karriere machen, weil ich ansonsten auf der Straße lande oder als Prostituierte ende.“ Als sie erneut als Erwachsene die Aufnahme hört, wird ihr das schwarz-weiß Denken bewusst, der ständige Versuch perfekt zu sein, die Stärke sich selbst gegenüber. Der Tod der Mutter, der große Verlust und die tiefe Trauer, eröffnen ihr neue Perspektiven. Ihr wird deutlich, wie wichtig und stark die Mutter, wenn sie als Frau war und ein wundervolles Vorbild, dass sie die, auch sehr laute und bunte, Konstante für Annas Leben bildete.
Ich wünschte, ich hätte ihr das noch sagen können.

Der Weg in die Filmbranche scheint in die Wiege gelegt. Ihre Mutter arbeitet als Maskenbildnerin für den Sender Freies Berlin und nimmt die Tochter mit auf Sets. Der Absender wird Annas zweites Zuhause und sie beobachtet die Stars in der Maske.
Der Vater ist erst Kameramann, dann gründet er seine eigene Produktions-Firma:
„Die eigene Firma meines Vaters hat mich als Kind sehr aufgenommen. Der eigene Laden, wenn er sagte: ich gehe in die Firma. Das fand ich cool.“
Nach der Schule zieht es Anna erst in viele unterschiedliche Richtungen. Sie möchte alles andere machen, nur nicht in die Fußstapfen der Eltern. Sie begeistern sich für Fotografie, Kunst und klassischen Gesang. Diplomatie findet sie spannend – alle paar Monate begeistert sie eine neue Idee.
Eine Agentin möchte sie als Schauspielerin vermitteln. Sie macht Fotos mit Jim Rakete und wird geschickt zu Castings.
„Zum frühen Zeitpunkt hatte ich nicht genug Selbstbewusstsein für die Schauspielerei. Das war missverständlich. Mein äußeres Erscheinungsbild und Auftreten im privaten Raum stand im Gegensatz zu den Castings, da hab mich hingesetzt, die Hände unter die Schenkel und war komplett paralysiert.“

Inspiration findet Anna durch ihre Freundinnen und oft auch durch Musikerinnen wie Patti Smith, die sie unter anderem mit ihrem „Advice to the Young“ stark geprägt hat, Florence Welsh und zuletzt Billie Eilish. Als Anna `Ocean Eyes´ das erste Mal hört, ist sie in den Bann gezogen.
„Ich habe das Internet durchsucht, alle Interviews und Dokus über Billie Eilish angesehen. Irgendetwas hat sie in mir ausgelöst.“
Es sind diese Selbstzweifel und die Verlorenheit, die Anna von sich als junge Frau wiedererkennt und der Schmerz als Außenstehende zu sehen, wie ein Mensch, mit so viel Talent, sich selbst so in Frage stellen kann.

„Es gibt diesen buddhistischen Gedanken: Alles was du im Hier und Jetzt änderst, ändert sich sowohl in deiner Vergangenheit, als auch in deiner Zukunft. Wenn ich jetzt auf Konflikte zurückschaue, mit einem neuen Blickwinkel, der versöhnlicher ist, dann nimmt es ein Gewicht von meinen Schultern.“

Anna arbeitet in verschiedenen Jobs, beginnt eine Ausbildung zum klassischen Gesang und kommt schließlich über Umwege zu einem Job in Köln bei Endemol. Geplant waren 3 Monate, geblieben ist sie 4 Jahre. Sie übernahm die Assistenz der Aufnahmeleitung für Notruf/Hans Meiser und hatte nach kurzer Zeit eigene Projekte als Aufnahmeleiterin und Produktionsleiterin. Unterstützt wird sie von ihrer Chefin, Edda Kraft, die ihr Freiraum lässt und ihre Leistung anerkennt.
„Den Job an sich, das Organisieren, fand ich total blöd, aber er ist mir super leichtgefallen. Das Aufregende waren die unterschiedlichen Drehorte, du triffst auf Menschen und Orte, die du sonst nie getroffen oder gesehen hättest.“
Nach 4 Jahren bekommt sie einen neuen Chef, der sie autoritär einengt. Sie merkt zu diesem Zeitpunkt, daß sie keine Angestellte sein kann, daß sie Freiheit braucht.
Anna verlässt Endemol, bewirbt sich an der „Hochschule für Film und Fernsehen – Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg und gründet 2006, noch während des Studiums, eine der wenigen Filmproduktionen in weiblichem Besitz: die Anna Wendt Filmproduktion. Mit ihrer Firma produziert sie seither preisgekrönte Spiel- und Dokumentarfilme, zuletzt den ARD Degeto Film „Karla, Rosalie und das Loch in der Wand“.

Die Filmbranche ist immer noch eine Männerdomäne. Hauptrollen, Regie, Drehbuch, Produktion liegen überwiegend in Männerhand. Weibliche Hauptrollen machen angeblich `keine Kasse´, Frauen sind eher Beiwerk zum Helden, 2014 fließen nur 15% der Mittel in Deutschland weibliche Filmemacherinnen zu, Kathryn Bigelow ist bis heute die einzige weibliche Regisseurin, die einen Oskar erhielt.
2014 starteten 300 Regisseurinnen die Initiative Pro Quote Regie um gegen die Ausgrenzungsmechanismen in deutschen Produktionsstrukturen zu demonstrieren.

„Ich habe mich als Frau nie bewusst benachteiligt gefühlt, dachte, ich kann alles schaffen, wenn ich nur hart genug arbeite. Und das habe ich gemacht oder zumindest es versucht. In meinem direkten Umfeld konnte ich zwei sehr erfolgreiche Frauen über die Schulter schauen, Sabine Christiansen und Regina Ziegler. (Anm.: Regina Ziegler ist eine deutsche Filmproduzentin. 1973 gründete sie die Filmproduktionsfirma Ziegler Film. Sie hat nach eigenen Angaben etwa 500 Filmprojekte realisiert und gehört zu den erfolgreichsten Persönlichkeiten der deutschen Filmbranche. Sabine Christiansen, erfolgreiche Moderatorin, Journalistin und Produzentin, war damals die bekannteste Politikdebatte im deutschen Fernsehen.) „Trotzdem ist es hart. Die Konkurrenz ist groß und Projekte zu finanzieren sehr herausfordernd. Das gilt aber genauso auch für meine männlichen Kollegen.“
Anna würde sich eine größere Solidarität unter den Frauen wünschen. Sie steht sich ein, daß sie selbst nur 2 Filme mit Regisseurinnen produziert hat und es meistens zwischenmenschlich herausfordernd war – oft aber auch ausgelöst durch die äußeren Umstände und fehlenden Mittel der Projekte.

Sie hat selbst die Erfahrung gemacht, als Frau angelächelt und unterschätzt zu werden und auch die eine oder andere Niederlage wegstecken müssen.
Ihre eigenen hochgesteckten Ziele mussten sie umwandeln, als 2011 ihr Sohn geboren wurde und parallel dazu die Mutter immer kränker wurde. Sie war sich sicher, daß einfach alles so weiterlaufen könnte.
„Aber das geht dann doch nicht so einfach. Da war plötzlich dieser kleine Mensch, mit eigenen Bedürfnissen – nebenbei ging das für mich nicht. Und dann noch meine Mama, die mich brauchte. Ich wollte damals ganz bewusst weniger arbeiten und dann schlich sich das „nebenbei“ nach und nach doch in mein Leben. While mein Mann arbeitet und den Kopf dafür frei hat, kümmere ich mich um unsere Art, die Wohnung, den Alltag und eben auch, nebenbei, um meinen Job. Das sind nicht die gleichen Bedingungen. „Vielleicht gibt es auch weniger Frauen, weil sie zu viel anderes zu tun haben?“
Anna macht eine Pause.
„Aber die Produzentin lebt, macht weiter.“ Sie lacht.

Mir fällt der Satz der Regisseurin Maren Ade ein: „Für meine Generation ist es nicht cool Feministin zu sein.“
Anna ist cool. Und für mich ist sie Feministin.

*Kommune 1 oder K1 war die erste bekannte deutsche Kommune in den 1960er Jahren. Sie wurde im Januar 1967 von acht Männern und Frauen aus der APO (Außerparlamentarische Opposition) in Berlin gegründet. Es existierte zwei Jahre und hatte großen Einfluss auf die Entwicklung und Wahrnehmung der Kommunen in Deutschland Ende der sechziger Jahre. Bekannt wurden die Mitglieder durch ihre Mischung aus künstlerischer und politischer Provokation, ihre langen Haare und ihre vermeintliche Promiskuität. Dieses Klischeebild von jungen, politischen Hippies sollte viele Jahre die deutsche Kommunalbewegung heimsuchen. Einer der berühmtesten Besucher des K1 war Jimi Hendrix.